Bremen 2018: Ein großes Luft- und Raumfahrtjahr ist zu Ende
29.01.2019„Für innovative Entwicklung die Kräfte gebündelt“
16.02.201911.2.2019: In der Airport-Stadt Bremen entsteht das Virtual Product House des DLR – Leiter Dr. Kristof Risse im Interview
Die fortschreitende Digitalisierung zeigt sich auch in der Luft- und Raumfahrtbranche: Es wird am „digitalen Flugzeug“ und „virtuellen Produkt“ gearbeitet – auch in Bremen. Hier entsteht gerade ein Ort, an dem Industrie und Forschung gemeinsam die digitale Flugzeugentwicklung voranbringen wollen: das „Virtual Product House“ des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Es wird im Forschungs- und Technologiezentrum EcoMaT (Center for Eco-efficient Materials & Technologies) in der Airport-Stadt angesiedelt sein. Dr. Kristof Risse, Leiter des virtuellen Produkthauses und Koordinator Digitalisierung Luftfahrt beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, erklärt im Interview, was im virtuellen Produkthaus passieren wird und wie der Stand der Dinge ist.
Herr Risse, was verbirgt sich hinter dem Virtual Product House?
Kristof Risse: Das Virtual Product House ist ein neues Forschungs- und Testzentrum, das wir als DLR gemeinsam mit Partnern aus der Industrie, Wissenschaft und mit den Behörden errichten. Dort wollen wir gemeinsam am virtuellen Produkt bzw. dem virtuellen Verkehrsflugzeug forschen und arbeiten. Wir beginnen mit einem Startprojekt, das vom Land Bremen und dem europäischen Förderfonds für regionale Entwicklung EFRE für drei Jahre gefördert wird. Im ersten Quartal dieses Jahres wird es eine offizielle Eröffnung des Virtual Product House geben.
Was ist ein virtuelles Flugzeug bzw. virtuelles Produkt?
Kristof Risse: Das virtuelle Produkt ist ein digitales Abbild eines realen Produkts, entlang seines Lebenszyklus. Beim Flugzeug heißt das: Mittels verschiedenster Simulations- und Rechenmethoden wollen wir es hochgenau numerisch im Rechner darstellen, mit all seinen Eigenschaften und Komponenten, wie etwa Aerodynamik, Systeme und Triebwerke. Unser übergeordnetes Ziel ist, das digital entworfene Flugzeug und seine Komponenten auch virtuell fertigen und testen zu können, bis hin zur virtuellen Zulassung.
Warum der Fokus aufs Digitale?
Kristof Risse: Bei der Entwicklung von neuen Flugzeugen haben wir die industrielle Herausforderung immer kürzerer Entwicklungszyklen, gleichzeitig müssen komplexe, neue Technologien integriert werden. Eine Lösung für diese gegensätzlichen Anforderungen ist die zunehmende Digitalisierung und Virtualisierung, einschließlich des Einsatzes virtueller Testverfahren.
Die Digitalisierung ist in der Luftfahrt schon lange ein Thema: Die Entwicklung des virtuellen Flugzeugs wird schon seit den 1980/90er-Jahren betrieben; die zunehmend hohe Vorhersagegenauigkeit aerodynamischer Simulationsmethoden ist hierfür ein Beispiel. Jetzt geht es aber viel mehr darum, noch interdisziplinärer zu arbeiten, um die digitale Durchgängigkeit zu erreichen, also alle Phasen des Lebenszyklus eines Flugzeugs zusammenzubringen, von der Entwicklung über Fertigung, Betrieb und Wartung bis zur Außerdienststellung. Unsere Simulationen müssen dabei immer wieder mit dem Realen sukzessive abgeglichen werden. Je mehr man diese Validierung hat, umso mehr können physische durch virtuelle Tests und Simulationsverfahren ersetzt werden.
Was genau machen Sie im Virtual Product House?
Kristof Risse: Unser konkreter Anwendungsfall im Rahmen des dreijährigen Startprojekts ist die Steuerfläche bzw. Landeklappe eines Flugzeugflügels mit dem Kernziel der virtuellen, das heißt simulationsbasierten Zulassung. Dabei geht es im Detail um die Weiterentwicklung und Verknüpfung virtueller Entwurfs-, Test-, und Fertigungsmethoden hinsichtlich ihrer industriellen Anwendbarkeit. Im November hatten wir das offizielle Kick-off-Meeting mit unseren Industriepartnern Airbus Operations GmbH, Liebherr-Aerospace Lindenberg GmbH, FFT Produktionssysteme GmbH & Co. KG und der Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft IABG, dazu Partnern der Universität Bremen und der beteiligten DLR-Forschungsinstitute.
Wie werden Sie im Virtual Product House zusammenarbeiten?
Kristof Risse: Wir sind zunächst ein kleines Team, es herrscht Start-up-Atmosphäre und wir arbeiten interdisziplinär zusammen. Dadurch entstehen Synergieeffekte, sowohl zwischen den verschiedenen beteiligten DLR-Instituten, aber auch im Zusammenspiel mit den Industriepartnern. Es ist aber auch eine große Herausforderung, denn schnell stellt sich beispielsweise die Frage: Welche Daten und Modelle gehören wem und können wem zugänglich gemacht werden? Um diese Fragestellungen zu lösen, sind unter anderem auch zwei Software-Institute des DLR mit an Bord.
Wie werden Sie später mit der virtuellen Steuerfläche arbeiten?
Kristof Risse: Wenn wir unsere Steuerfläche entworfen haben, können wir zum Beispiel eine Änderung in der Geometrie vornehmen und durch die entwickelten Simulationsmethoden sehr schnell sehen, welche Auswirkungen das auf die Aerodynamik, auf die Struktur, auf ein simuliertes Flugmanöver hat. Oder ein Zulieferer wie Liebherr will einen neu entwickelten Aktuator für Steuerflächen testen: Diesen können wir in das virtuelle Flugzeugmodell integrieren und ihm über die virtuellen Testverfahren Änderungsvorschläge im Sinne der Zulassung geben. Das spart Kosten für Entwicklung und Zulassung. Wir interagieren aber auch frühzeitig mit den Zulassungsbehörden wie der EASA, damit Prozesse und Simulationsmethoden, die wir entwickeln, auch sicher und zuverlässig eingesetzt werden können. Das DLR agiert hierbei weiterhin als Forschungseinrichtung, versteht sich aber zunehmend auch als „virtueller Integrator“ zur Unterstützung der Industrie. Die Digitalisierung der Luftfahrt ist unsere Mission, die wir ja auch im Sinne unseres politischen und gesellschaftlichen Auftrags haben.
Ist das Virtual Product House offen für weitere Unternehmen, auch KMU?
Kristof Risse: Das Virtual Product House ist als offene Plattform gedacht. Wir beginnen mit diesem Startprojekt, das wollen wir erst einmal aufbauen und dann sukzessive erweitern. Natürlich soll es auch nach den drei Jahren weitergehen, daran arbeiten wir schon jetzt. Es gibt viele Schnittstellen gerade im Bereich der Digitalisierung, zum Beispiel in Software-Fragen oder Künstlicher Intelligenz. Da wollen wir früh nach geeigneten Partnern schauen und unsere Kooperationen weiter ausbauen. Das können natürlich auch KMU sein, die ja oft kleinere, flexiblere und schnellere Lösungen anbieten.
Für die virtuelle Steuerfläche haben Sie jetzt drei Jahre Zeit. Was soll am Ende stehen?
Kristof Risse: Wenn wir in dem Dreijahresprojekt einen integrierten Prozess zum virtuellen Testen und Zulassen einer Steuerfläche aufbauen können, wäre das ein sehr gutes Ergebnis – und eine Herausforderung.
Und wann wird es das virtuelle Flugzeug geben?
Kristof Risse: Das virtuelle Flugzeug als Ganzes wird sicher zehn oder mehr Jahre brauchen. Hierzu laufen verschiedenste Aktivitäten im DLR und in der gesamten Industrie- und Forschungslandschaft, die wir gemeinsam in den nächsten Jahren zusammenführen müssen.
Kontakt: kristof.risse@dlr.de
Das Land Bremen fördert das virtuelle Produkthaus für die Dauer von drei Jahren mit 2,4 Millionen Euro, die Hälfte davon stammt aus Mitteln des europäischen Förderprogramms EFRE.
Das DLR hat zudem, gefördert durch das BMWi, vier neue Institute im Bereich Luftfahrt gegründet. Diese erarbeiten, zusammen mit den vorhandenen DLR-Instituten, die wissenschaftlichen Grundlagen und Methoden für das „virtuelle Produkt“ und das VPH in Bremen.